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... Fortsetzung: Marius Winzeler,  Retrospektive 1983–2009

Vergangenes aufscheinen, aber nicht aufdecken zu wollen: Die Fotografien als Dokumente einer bereits zurückliegenden Wahrnehmung werden nicht neu interpretiert, sondern ihre darauf gespeicherten Erinnerungen werden transformiert in eine Erscheinung, die als Bewältigung, ja regelrechte Überwältigung des Gewesenen gesehen werden kann.

Christa-Luise Riedel, geboren 1943 in Görlitz an der Neiße, heute am Ostrand Sachsens gelegen, damals räumlich, nicht jedoch zeitlich noch weit von Grenzen entfernt, hat seit ihrer Wiederbegegnung mit den Orten ihrer Kindheit viele Gedanken ihren eigenen Wurzeln gewidmet. In mehreren Ausstellungen in ihrer Geburtsstadt und deren Umgebung präsentierte sie verschiedene Aspekte ihres Schaffens, setzte neue und ungewohnte Akzente in der lokalen Kunstszene und ließ sich selbst zu neuen Werken inspirieren, die von der besonderen Situation der heute geteilten, deutsch-polnischen Stadt ausgehen. Archaische Themen von Werden, Sein, Vergehen, altägyptische Göttinnen als Sinnbilder gegenwärtiger Befindlichkeiten, aber auch verschüttete Erinnerungen aus der Kindheit, die von Gewalt, Not und Vertreibung überschattet war, wurden von der Künstlerin umgesetzt. Ihr in 30 Jahren gewachsenes und gewandeltes Werk, das immer wieder mit neuen Facetten, neuen Ausdrucksformen und neuen Sprachweisen überrascht, fand nicht nur in Afrika und Portugal neue Nahrung, nicht nur durch die Auseinandersetzung mit den Klassikern der Moderne, mit Else Lasker-Schüler, mit Themen aktueller Weltgeschehnisse. Auch die neu belebten Verbindungen nach Görlitz und von dort nach Polen hinein wirkten als Impulse weiter.

Nach Ausstellungen in Zgorzelec und in der niederschlesischen Keramikstadt Bunzlau/Bolesławiec hat sich Christa-Luise Riedel bei einem Werkaufenthalt im Barockschloss Königshain bei Görlitz neben der Malerei nach einer längeren Pause den keramischen Wurzeln ihres künstlerischen Schaffens gewidmet. Mit lokalem Modelliermaterial griff sie frühere Ideen und Konzepte neu auf und schuf aus seriell geformten abstrahierten Figuren und gebranntem Geröll eine große Installation, der sie den Titel „Vertreibung [ group]“ gab.  Eine Gruppe von Menschen bildet dichtgedrängt einen Kreis, der allseitig von flachem Geröll umgeben ist. Sie sind in sich gekehrt, vollkommen verlassen, voneinander abhängig, außerhalb ihrer Gruppe völlig schutzlos. Es ist ein Bild der Menschheit als Getriebener und Vertriebener – aus dem Paradies in die Wüste. Insofern kann man schlecht einen konkreten historischen Hintergrund für die Installation geltend machen – vielmehr hat hier die Künstlerin einen gültigen Ausdruck für eine übergeordnete Daseinsempfindung – für Entwurzelung – gefunden.

Kritisches Engagement, Auseinandersetzung mit Fragen der Gegenwart, humanitäre Anliegen, Menschlichkeit – dies sind Beweggründe für das Schaffen Christa-Luise Riedels. Der Drang zum Schöpferischen, Kreatürlichen als Weg zur Bewältigung bedrängender Fragen und Nöte mag daneben ein weitere Impetus sein..

Es ist deshalb wichtig und richtig, in der Zusammenschau einer Retrospektive die künstlerischen Anfänge einzubeziehen. Schon parallel zur figürlichen Arbeit hat sie sich dabei auch abstrakten Formen zugewandt und etwa in einem Relief von 1983, das eine Kreisvertiefung in einem Quadrat zeigt, bereits ein Grundkonzept für spätere Arbeiten gefunden: im Dialog des in ein Quadrat einbeschriebenen Kreis mit einem erhabenen Balken in seiner Mitte und zwei aufgesetzten kleineren Halbkugeln, mit gegensätzlicher Reliefierung in rauher und glatter Oberfläche, mit körperlichen Dissonanzen und Konsonanzen.

Doch neben dem Formelhaft-Reduzierten, den Tendenzen des Konkreten, mitunter Strengen, hatte für die Künstlerin das Figurative stets eine besondere Bedeutung. Noch in den minimalistischen Plastiken, die in Gestus und angedeuteter Körperlichkeit von menschlichen Regungen ausgehen, spielt der Mensch als Maß dieser Kunst eine herausragende Rolle. Am Anfang war sein direktes Abbild Mittel zum Zweck, nämlich künstlerische Freiheit zu erlangen.

In symbolistischen Personifizierungen griff Christa-Luise Riedel in jenen Jahren Momente aus dem dichterischen Werk von Else Lasker-Schüler auf, das sie sehr bewegte. Anteilnahme, Betroffenheit, Verinnerlichung prägen diese frühen Arbeiten. Später hat sie ihre expressionistische Phase mit der Figurengruppe „Das Grauen“ abgeschlossen. Vom Figürlichen gelangte sie mit dem ihr eigenen Mut zum Gestischen und ließ schließlich ihr unmittelbar Körperhaftes los – um aber doch jederzeit bei Bedarf auch wieder darauf zurückzukommen. Offensichtlich kennt die Künstlerin keine Berührungsängste, wenn es ihr darum geht, für ihren Ausdruckswillen adäquate Mittel zu erschließen und zu erlangen. Dadurch ergibt sich ein fortwährender Wandel, eine überraschende Dynamik, die in intensiver Arbeit in einem weiten Bogen von figürlichen Umsetzungen gefühlter Stimmungen bis zur völligen Auslöschung der Bildlichkeit in den „übermalten Fotografien“ oder zu den reinen Formen plastischer Bewegungen führte.

Mit Ton näherte sie sich reinen Bewegungen an: schmal modellierte, kompakte Barren wurden zu gerundeten Spiralen und Schnörkeln, zu raumgreifend schwebenden Formen, deren klar gekantete Körperhaftigkeit in einem spannungsvollen Gegensatz zum kringelnden Gestus stehen. Aus Erde geformt, zu Ton gebrannt und in Bronze gegossen – das Material wurde verfremdet und blieb doch in seiner Oberflächenqualität bewahrt: in ihrer archaischen Schlichtheit fordern diese Formen geradezu zum berühren, zum Halten, Fassen an und schaffen so eine haptische Interaktion, Kommunikation mit dem Betrachter. Ornamentale Leichtigkeit, Freude an Form und Fläche, an Raum und Materialstruktur, stimulieren die Experimentierfreude der Künstlerin. Als malerische Entgegnung zu ihren Bronzekörpern schuf sie den Zyklus „Intersection“ – eine Allusion der klassischen Moderne mediterraner Prägung, Miró und Matisses Scherenschnitte mögen inspirierend gewirkt haben. Bewegung wurde hier in Fläche umgesetzt, ein Punkt dazu in Beziehung gesetzt, spielerisch ist der Dialog von Formen und abstrakten Körper bei aller Zweidimensionalität in eine räumliche Entfaltung gebracht. Im Titel wird an einen Vorgang aus der Luftfahrt erinnert, an virtuelle Navigations-Schnittpunkte, ohne die kein Pilot den Flugplan einhalten könnte.

Linien und Zeichen mit vorder- und hintergründiger Bedeutung gehören zu den Konstanten im Werk Christa-Luise Riedels. Sei dies auf ihren Plexiglasritzungen, ihren Zeichnungen oder auch in keramischen Arbeiten. Verstärkt entwickelte sich im lauf der Jahre aber auch die Farbe zu einem zunehmend wichtigen Bedeutungsträger für die Künstlerin. Ihr „Tondo“ von 2008 oder auch der Zyklus „Ring Nebula“, der einer kosmischen Erscheinung gewidmet ist, zeigen dies kraftvoll. Der „Tondo“, seit der Florentiner Frührenaissance eine Bildform, die mit Geburt und Taufe verknüpft ist, umfasst zwei getrennte Halbscheiben, deren Bemalung an einen Schöpfungsvorgang erinnert: im fließenden Blau erscheint ganz klein ein roter Akzent als Symbol neuen Lebens. Und „Ring Nebula“ ist zwar vom kosmischen Ringnebel im Sternbild „Leier“ abgeleitet, besticht und irritiert aber über alles Abbildende hinaus als visionäre Lichterscheinung von überirdischer Kraft. Das Bild des Kreises, Zeichen der Unendlichkeit und Vollkommenheit, konfrontiert uns „mit unserer Kreatürlichkeit und zeigt uns zugleich einen neuen Horizont“, wie die Theologin Cornelia Zeißig zum großen plastischen Werk „Le cycle“ (1999) schrieb, das auf einer quadratischen Holzplatte einen leuchtend roten Kreis aus brüchiger Keramik aufweist. Die geborstene Oberfläche vermag dabei die Verletzbarkeit aller Schöpfung anzudeuten. Der Prozess des Brennens als Teil des kreatürlichen Vorganges hat eine zerstörerische Kraft. Auch Christa-Luise Riedel schöpft aus dem Gegensatz von Werden und Vergehen Kraft für das Sein: auch in ihrem Werk hat sich der Mut zur Destruktion Bahn gebrochen. Dies kann als ein besonderes Freiheitsverständnis, als wild-dynamischer Umgang mit Medien und Formen, Materie und Idee gewertet werden. In den 2008 entstandenen Arbeiten „Verborgene Schönheit“ und „Danach“ gelang es der Künstlerin, Konventionen in der Materialität durch das Spiel mit Glasur und Rohfläche sowie in der Form durch Aufblättern und Aufschneiden zu durchbrechen und so autonome Keramikplastiken zu erzielen.

Das Werk von Christa-Luise Riedel ist nach wie vor in Bewegung und hat noch keinen Punkt erreicht, in dem sich Ruhe ausbreitet und in der sich eine Vollendung abzeichnet. Wohin Kraft und Energie, Offenheit und Inspiration die Künstlerin weiter tragen werden, ist ungewiss. Eine Retrospektive muss denn auch keineswegs als Bilanz verstanden werden. Doch bietet eine Rückschau Gelegenheit zum Innehalten und zum Nachhaken, zum Befragen und zum Mutmachen für weiteres Voranschreiten. Und das Publikum lädt eine solche Ausstellung ein zur spannenden Entdeckung von Entwicklungslinien, Beziehungsgefügen, von langen Kontinuitäten und plötzlichen Brüchen. Das Werk von Christa-Luise Riedel hat viele Gesichter und umfasst viele Schichten. Gerade dies macht es so faszinierend und anregend, so bestechend in seiner Fülle und Kraft. Lassen wir uns herausfordern! Und neugierig machen auf mehr.